Überzeugen als Widerstand

Der Soldatenrat
Briefe und Zeitschrift
1941 – 1942

Die Zeitschrift Der Soldatenrat wurde von einer Widerstandsgruppe aus dem Kommunistischen Jugendverband (KJV) herausgegeben. Die „Gruppe Soldatenrat“ verfasste auch Flugblätter und Briefe. Damals gab es weder Geräte noch Medien, um schnell viele Kopien herzustellen und zu versenden. Das Material musste mit der Schreibmaschine abgetippt oder von Hand abgeschrieben werden. Stand ein Vervielfältigungsapparat zur Verfügung, konnte man mehrere Kopien auf einmal machen. Das Foto zeigt die Bestandteile eines damaligen Vervielfältigungsapparates, der in einem Holzkoffer untergebracht war.


Frontbrief der „Gruppe Soldatenrat“, um 1941

Die Verzweiflung in der Heimat steigt von Tag zu Tag.
Ich bitte Dich, hilf mit Schluß zu machen mit dem Massenmorden!
Ein Wiener Arbeitermädl


Kettenbrief der „Gruppe Soldatenrat“, um 1941

Abschreiben! Weitergeben!
Österreicher! Österreicherinnen!
Unsere ganze Zukunft liegt jetzt allein in unseren eigenen Händen!

Während Österreichs Söhne aus Feigheit auch heute noch auf Befehl der Hitlerischen Banditen eine Stadt nach der anderen in Trümmer legen, (wie auch jetzt noch jede Woche in der Wochenschau zu sehen ist) sollen die Betroffenen zum Dank dafür gerade unsere Städte verschonen? Und das obwohl Wien durch unsere tägliche Arbeit eines der Hauptproduktionsgebiete für die Naziwaffen und ein Hauptzentrum für ihren Kriegsverkehr ist.

Beweisen wir doch endlich nicht mit geflüsterten Worten, sondern mit Taten, daß wir wirklich die Freunde und Verbündeten der freiheitsliebenden Völker sind, und sie werden uns auch als Freunde und Verbündete behandeln.

Bilden wir – jeder an seinem Platz – ohne länger zuzuwarten, mit unseren Kollegen Sabotagegruppen und legen wir die Produktion und den Kriegsverkehr der braunen Massenmörder lahm, – und ihr werdet keine Luftangriffe mehr zu fürchten haben.

Keine Arbeit mehr für die Nazikriegsverbrecher. Das ist der beste Luftschutz!

Dies ist ein Kettenbrief. Schreib ihn 6 Mal ab und schick ihn per Post an aufrechte Österreicher. Tust Du das nicht, so machst Du die Arbeit der Gestapo und begehst Verrat an Österreich.

Falls dieses Blatt einem Polizisten in die Hand fällt, soll er daran denken, daß es auch ihn angeht! Auch er hat sich zu entscheiden: mit den Nazi in den Untergang oder mit Österreich in die Freiheit.


Zeitschrift Der Soldatenrat, Editorial, Nummer 1, 1941

Unsere Zeitung.

In vielen hunderten Kompanien und in allen grösseren Einheiten haben sich Soldatenräte gebildet. Ihr Ziel ist Schluss zu machen mit Krieg und Faschismus. Sie kämpfen für die Interessen des völlig entrechteten deutschen Soldaten, und wo es möglich ist, vertreten sie sein Recht gegenüber den Vorgesetzten. Diese Zeitung soll die Verbindung zwischen den Soldatengruppen an der Front und in der Heimat festigen und die Kameraden, die noch nicht zu uns gehören, aufklären. Soldaten schreiben hier für Soldaten. Artikel und Berichte, die ihr uns schicken wollt, gebt ihr am besten dem Genossen, von dem ihr diese Zeitung erhalten habt. Sammelt auch fortlaufend Feldpostnummern von Kameraden, die noch der Aufklärung bedürfen.


Zeitschrift Der Soldatenrat, Nummer 1, 1941 (Auszüge)

Soldaten!

Während Hitler und das Gesindel um ihn täglich und stündlich ein Geschrei anheben, als hätten sie Sieg und Weltherrschaft jetzt wirklich in der Tasche und die Glückseligkeit „nach dem Kriege“, von der sie immer reden, bräche nun bald an, wenden wir uns an Euch, Kameraden, um einmal unsere Lage und unser gemeinsames Schicksal klar und offen zu besprechen. Alle wurden wir aus unserer gewohnten Umgebung, aus unserem eigenen Leben gewaltsam herausgerissen, mussten einen verdummenden, brutalen Drill mitmachen, hatten tausende unnötige Demütigungen und Schikanen zu erdulden bis wir nach einer Reihe furchtbarer Strapazen reif waren in den Heldentod geführt zu werden. Menschenopfer spielen ja unseren Herren und Meistern nicht die geringste Rolle, denn es erreichen ja immer wieder neue junge Menschen das schlachtbare Alter.– Aber wir fragen uns: Warum?

Warum sollen wir weiter ohne nachzudenken andere Menschen umbri[n]gen und uns selbst verstümmeln und erschiessen lassen? […] Man komme uns nicht mit Worten von Deutschtum und Vaterland. Wir alle lieben unsere Heimat und unser Volk viel mehr als die Lumpen, die diese Worte ständig im Maule führen. Aber wir wissen auch, dass Deutschland und das deutsche Volk in diesem Krieg nie angegriffen wurden sondern dass im Gegenteil Hitler und seine Spiessgesellen uns systematisch dazu benutzen, anderen Völkern ihre Freiheit zu rauben. Können wir es ihnen verdenken, wenn sie sich dagegen wehren? Können wir es vor allem den Arbeitern und Bauern der Sowjetunion verargen, wenn sie ihr Land mit einem Fanatismus und einer Zähigkeit verteidigen, die uns in Erstaunen setzt?

Soldaten, es hängt vor allem von uns ab, ob das ganze System von Scheusslichkeiten, das uns Hitler beschert hat, noch lange besteht. Von uns hängt es ab, ob es in Europa weiterhin Krieg, Not, Faschismus und kapitalistische Ausbeutung geben soll oder Frieden und Freiheit für alle. Unsere Brüder in den Fabriken haben es schon lange satt, sich für ihre Unterdrücker zu Tode zu schinden; sollen wir uns für die selben Ausbeuter noch lange erschiessen lassen?

Kameraden! Wir Soldatenräte der deutschen Wehrmacht und mit uns all die Millionen entrechteter uniformierter Kulis, in deren Namen wir sprechen, wissen genau was es bedeutet, wenn entschlossene, bewaffnete Männer bereit sind, ein Unternehmen planmässig durchzuführen. Dies hat uns Hitler selbst durch jahrelangen Kriegsdienst beigebracht. All unseren Mut, all unsere Erfahrung und unsere Tatkraft wollen wir aber jetzt in den Dienst der besseren Sache, in den unserer eigenen Sache stellen: In den Dienst unserer Freiheit, in den Dienst der Revolution!

Die Verluste beim Ueberschreiten der Nara waren so furchtbar, dass die eingesetzten Soldaten nur wenig Lust zeigten, ihren „Heimatboden“ tausende Kilometer von Zuhause entfernt zu „verteidigen“. Die Offiziere einer oberösterreichischen Pionierabteilung halfen diesem Mangel an Begeisterung ab, indem sie die Soldaten mit vorgehaltener Pistole in den Fluss trieben… […]

In der Heimat kämpfen die revolutionären Werktätigen durch Sabotage für die Beendigung dieses Krieges, den Hitler schon verloren hat. So z. B. flogen am 17. XI. 1941 die Aga Sauerstoffwerke in die Luft. Auch unsere Pflicht ist es, gleich den mutigen Arbeitern, die Kriegsmaschine auf jede erdenkliche Weise zu sabotieren und so das unsere zur raschen Beendigung des sinnlosen Mordens beizutragen.


Zeitschrift Der Soldatenrat, Nummer 2, 1942 (Auszüge)

Der Fall Brauchitsch.

Der Führer hat persönlich die oberste Leitung des Heeres übernommen. Nun wird sich bestimmt alles zum Guten wenden: in den Erdlöchern der Front wird wohltuende Wärme einziehen, die Läuse werden zu beissen aufhören und die sowjetische Artillerie wird s[t]att mit Granaten mit Zwetschkenknödel schiessen. Jeder Soldat bekommt pelzgefütterte Unterhosen und dreifache Verpflegung, denn Hitler, der ja „die Leiden und Bedürfnisse des Soldaten aus eigener Erfahrung kennt“, wird jetzt als Oberbefehlshaber des Heeres für die Truppen sorgen können, was er als Oberster Befehlshaber der gesamten Wehrmacht nicht konnte!

Spass beiseite – was aber bedeutet dieser Wechsel im Oberkommando des Heeres? Was spielt sich hinter den Kulissen ab und welche Schlüsse können wir daraus für uns ziehen? Tatsache ist: der „seit langem herzleidende“ Brauchitsch wurde seines Postens enthoben, bzw. bat selbst um diese Enthebung, weil er für faschistische Begriffe noch immer allzuviel Verantwortungsbewusstsein und vor allem eine zu klare Auffassung der wahren militärischen Lage hatte. – Brauchitsch war schon im Herbst dafür, die Operationen der Jahreszeit und den klimatischen Bedingungen anzupassen, Hitler drängte vorwärts. Brauchitsch war gegen die Anwendung von chemischen Kampfstoffen, die Hitler in Erwägung zog. Vor allem aber war Brauchitsch gegen die wahnwitzige 6. Offensive gegen Moskau, während Hitler darauf bestand, viele Zehntausende deutscher Soldaten nutzlos bei diesem Unternehmen zu opfern. […]

Wir sind jetzt voll und ganz einem Narren ausgeliefert. Dieser Tobsüchtige wird ohne mit einer Wimper zu zucken uns, unsere Familien und das ganze deutsche Volk krepieren lassen, um nur nicht aus seinem Machtrausch aufzuwachen. Wir sind verloren, wenn wir uns nicht baldigst selbst helfen!


Zeitschrift Der Soldatenrat, Nummer 3, 1942 (Auszüge)

„… weiss ich nicht“

Es gibt eine Menge Leute, die bei jeder neuen Schweinerei, welche im III. Reich passiert, sagen: „Der Führer wird schon wissen…“ […] Wir hingegen haben nach der langweiligen, 2-stündigen Rede vom 30. Jan. das starke Gefühl, dass er verflucht wenig weiss, zumindest nicht, wo ein und aus. – Er weiss nicht, wie lange wir noch diesen Krieg haben werden und er weiss nicht, wie dieses Jahr ausgehen wird. Und, meint er, „über den Krieg will ich überhaupt nur wenig sprechen“. So geht das weiter.

Voriges Jahr, zur selben Zeit, da hat dieser Mann mit der inneren Stimme noch so viel gewusst. Er wusste genau, dass das Jahr 41 das Jahr des Endsieges werden würde, dass England mutterseelenallein und geschlagen am Boden läge und dass wir im Frühjahr 1941 die grösste U-Bootoffensive aller Zeiten gewinnen würden. Ja, damals hing noch der Nazihimmel voll Geigen und die „innere Stimme“ des Führers wusste dem deutschen Volk muntere Dinge vorzuplaudern. Das prophetische Auge des grossen Mannes hat aber gründlich danebengesehen und wir können jetzt in Kälte und Dreck, unter Granaten und Flammenwerfern, mit Läusen und Flecktyphus diese Sehstörungen ausbaden. Er aber ödet uns mit alten Geschichtsfälschungen stundenlang an, will nicht von Krieg sprechen und weiss im Übrigen von nichts!


Biografien „Gruppe Soldatenrat“


Objekt
Frontbrief, um 1941
Kettenbrief, um 1941


Quelle
Marie Tidl
Die Roten Studenten
Dokumente und Erinnerungen 1938 – 1945
Karl R. Stadler (Hg.)
Materialien zur Arbeiterbewegung Nr. 3
Wien 1976, S. 142 (Frontbrief), S. 144f (Kettenbrief)



Objekt
Zeitschrift Der Soldatenrat
Nr. 1, 3, 4
Zitate aus Nr. 1, 2 und 3
1941 – 1942
Papier, A4, mit Schreibmaschine


Archive
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
4063/4 (Nr. 1, 3)
Bundesarchiv
R3017/22900 (Nr. 2), Gestapo-Akte von Walter Kämpf



Objekt
Vervielfältigungsapparat, Marke Opalograph
um 1941


Archiv
Privatarchiv Georg Tidl


Literatur
Lisl Rizy, Willi Weinert (Hg.)
„Mein Kopf wird euch auch nicht retten“
Korrespondenzen österreichischer WiderstandskämpferInnen aus der Haft
Wien 2016



  
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